Gruppenpädagogik

ForE 2-2002

So konstitutiv die Gruppe ist für das Aufwachsen und die Entwicklung jedes Menschen, so konstitutiv ist dies die Gruppen- (bzw. Gemeinschafts-)Dimension für die Sozialpädagogik, sonst wäre sie ja Individualpädagogik. Jeder, aber besonders Heranwachsende brauchen ein Gegenüber - nach Martin Bubers Dialogischem Prinzip brauc­ht jeder das Du, um Ich zu werden. Auch im Begriff „Sozialisation“ wird diese Notwendigkeit von „Gegenübern“, Gruppen und Gemeinschaften, für die mensch­liche Entwicklung und Identitätsbildung sehr schön deutlich, die Gruppen, in die man hinein­wächst, durch die man geprägt wird, und die man selbst - als „produktiv die Realität verarbeitendes Subjekt“ (Hurrelmann) - beeinflusst. Das wissen wir natürlich alle. Wird diese Einsicht in den Erziehungshilfen auch genügend beherzigt?

Wir - die Redaktion des Forum Erziehungshilfen - haben den Eindruck, dass der gruppenpädagogische Aspek­t speziell im Bereich der Heimerziehung in den vergangenen Jahren zu kurz gekommen ist. Das hat Gründe: Die fachliche Debatte über Heim- und Wohngruppenpädagogik fristet ohnehin ein Nischendasein. Die - berechtigte - Kritik an der Wohngruppe als einer Zwangs-Gruppe zumeist hoch belasteter Jugendlicher hat vielerorts weniger zu einem Überdenken der Aufnahmekriterien oder anderer konzeptioneller Grund­lagen der Einrichtung geführt (z.B. größere Gruppen um dem einzelnen Gruppenmitglied Wahlmöglichkeiten zu eröffnen, Öffnung der Gruppe zum sozialen Umfeld, siehe hierzu die konkreten Vorschläge von Helga Treeß), als vielmehr zum fast vollständigen Verzicht auf Gruppenpädagogik im Sinne eines bewussten Arrangierens und Inszenierens von lern- und bildungsträchtigen Situationen in und durch die Gruppe. Das führt nicht selten dazu, dass es in den Wohngruppen zwar, wie Jürgen Kalcher in seinem Beitrag schreibt, immer um eine Vielzahl von Kindern oder Jugendlichen geht, dass aber deren Zusammenwirken als „Gruppe“ nicht thematisiert und reflektiert wird, und daher von Zufälligkeiten bestimmt wird. Die Gefahr ist außerdem groß, dass Jugendliche recht schne­ll als „grup­penunfähig“ ausgegrenzt werden, obwohl doch eigentlich vielmehr die Institution und/od­er die betreuenden PädagogInnen unfähig sind, Gruppe zu ermöglichen.

Aber welche Bedingungen benötigt eine funktionierende Gruppe? Und welche Faktoren verhindern Erfolg? Welche Kenntnisse und Kompetenzen benötige ich, um Gruppenprozesse verstehen, anregen und moderieren zu können? Hierzu möchte das vorliegende Heft Anregungen geben und Mut machen für ein offensiveres Umgehen mit der Gruppendimension im pädagogischen Alltag.

Helga Treeß beschreibt zunächst die in der Wohngruppenpraxis vielfältig zu beobachtenden Widersprüche im Hinblick auf gruppenpädagogische und -dynamische Essentials. Sie entwirft dann - unter Rückgriff auf den Situationsansatz - Vorschläge für eine produktivere Gestaltung von Gruppensettings. Große Bedeutung misst sie dabei vor allem der Öffnung der Wohngruppe zum Gemeinwesen bei.

Jürgen Kalcher erinnert an die insbesondere in den USA (weiter-)geführte Theorie- und Methodendiskussion zur sozialen Gruppenarbeit und betont die Chancen einer gruppenpädagogisch qualifizierten Erziehung im Heim. Hierzu bedarf es Kalcher zufolge jedoch eines spezifischen methodischen Wissens und Könnens, um die Gruppendimension auch professionell nutzen zu können.

Zwei Praxisbeispiele runden den Heftschwerpunkt ab:

Jürgen Hast und Gerald Rieken vom Psychagogischen Kinderheim Rittmarshausen berichten über ihre gruppenpädagogische Praxis im Wohngruppenalltag am Beispiel der Mahlzeiten, den wöchentlichen Gruppengesprächen und im Rahmen erlebnispädagogischer Aktivitäten.

Das Thema Erlebnispädagogik greift auch Jürgen Vieth vom Verein für bewegungs- und sportorientierte Jugendsozialarbeit auf. Auf der Basis seiner langjährigen Erfahrungen formuliert der Autor Prinzipien, deren Berücksichtigung über Erfolg oder Misserfolg für Mädchen und Jungen wie für PädagogInnen entscheiden. Nur diejenigen Maß­nahmen sind sinnvoll, die gut vorbereitet sind, von qualifizierten PädagogInnen durch­geführt werden, die die besonderen Bedingungen der spezifischen Gruppe berücksichtigen, so sein Fazit.

Wolfgang Trede

 

Aus dem Inhalt

Norbert Struck:
KGSt - Consult zwischen Kontrakt und Katastrophe

Helga Treeß:
Situationsorientierte Pädagogik in Wohngruppen als Mehrebenenpraxis erzieherischer Hilfen

Jürgen Kalcher:
Nutzung der Gruppendimension in Settings der Heimerziehung

Jürgen Hast, Gerald Rieken:
Gruppenpädagogik und soziales Lernen im Alltag der Heimerziehung

Jürgen Vieth:
Erlebnispädagogik - Abenteuerliche Wege zur Gruppenbildung (nicht nur) in der Heimpädagogik

Anne Frommann:
In Bihac an der Una. Fachkonferenz für ErzieherInnen in Ländern und Regionen des ehemaligen Jugoslawien

Hans Thiersch:
Ressourcen und Probleme in der Lebenswelt – Fragen zu flexiblen und integrierten Hilfen