Jugendhilfe und Bildung

ForE 2-2003

Nach den lange abgeklungenen Bildungsoffensiven der 60er und 70er Jahre bekommt das Thema Bildung aufgrund von vergleichenden OECD-Studien wieder öffentlich Gewicht. Zumindestens in der öffentlichen politischen Debatte, in den Schuldiskursen und zunehmend auch in den Debatten der Kinder- und Jugendhilfe wird Reform- und Nachholbedarf angemeldet und vor allem nach den Beiträgen von Schule und sozialpädagogischen Angeboten zur Teilhabe von jungen und alten Menschen an einer komplexen Wissens- und Risikogesellschaft gefragt. In Zeiten des Sozialabbaus und der schleichenden oder offenen Standardabsenkung für Unterstützungsleistungen scheint die Bildungsdebatte die strategische Chance für die Jugendhilfe zu beinhalten, der Randständigkeit in der öffentlichen Aufmerksamkeit zu entkommen und gesellschaftliche Akzeptanz für ihre Leistungen zu gewinnen. Andererseits besteht die Gefahr, dass die Soziale Arbeit zugunsten von - sich auch wieder rasch wandelnden Förderschwerpunkten und öffentlichen Aufmerksamkeiten – genau ihre Eigenarten und Spezifika zurückstellt, verkürzt wird auf eine Stützungs- und Kompensationsfunktion für die formelle Bildung in schulischen Prozessen.

Stattdessen gilt es, die Eigenarten und besonderen erprobten Formen der Praxis von Bildung, die im Erziehungsprozess steckt, deutlich zu machen. Dazu gehört, immer wieder deutlich zu machen, dass es um die Bildung von Lebenskompetenzen geht als Voraussetzung und Fähigkeit belastete Verhältnisse auszuhalten und zu verändern (Bildung als Ressource zur Lebensbewältigung). Dazu gehört zu zeigen, dass Bildung in einem übergreifenden Sinne darauf abhebt, dass Kinder und Jugendliche und ihre Familien Umgebungen, Welten, Orte vorfinden, an welchen sie sowohl Anstoß zur eigenen Veränderung wie auch zu dem der Veränderung ihrer Lebensbedingungen finden (Bildung als Klammer von Gemeinwesenarbeit und Einzelfallhilfe). Dazu gehört, öffentlich hervorzuheben, wie zentral es in der individualisierten Welt mit einer verwirrenden Offenheit heutiger Lebensentwürfe ist, Hilfe- und Bildungsangelegenheiten nach dem Prinzip der individuellen Passung (Hilfeplanung etc.) und als Aushandlungsprozess zu gestalten, in dem das Kind als Co-Konstrukteur auch seines Wissens, seines Könnens auftreten kann.

Im vorliegenden Heft wird zunächst nochmals daran erinnert, dass die Hilfen zur Erziehung als Bildungsförderung explizit im Elften Kinder- und Jugendbericht konturiert wurden. Anschließend stellt Richard Münchmeier ausgehend von den Arbeiten des Bundesjugendkuratoriums zum Verhältnis von Bildung und Jugendhilfe den eigenständigen Bildungsauftrag der Jugendhilfe heraus. Bildung als Querschnittsaufgabe für verschiedene Bildungsorte bedarf des Aufbaus einer Kooperationskultur  - so der Autor. Gerrit Kaschuba und Barbara Stauber knüpfen im weiteren Schritt an die Ergebnisse der PISA-Studie an und machen deutlich, dass geschlechterspezifische Analysen für die Organisation von Bildungsprozessen in der Schule und in der Jugendhilfe bisher in der neuen Debatte eher randständig sind.  Sie plädieren u.a. für Gender Trainings für PädagogInnen in der Schule und in der Jugendhilfe und für die Nutzung der Erfahrungen aus den geschlechterbewussten Modellprojekten im Schnittpunkt Jugendhilfe und Schule. Schließlich dokumentieren wir den Aufruf des DPWV und anderer Bundesorganisationen zur Kooperation bei der Entwicklung von Ganztagsangeboten. Tenor des Aufrufs ist die Warnung vor aktuellen Bestrebungen, sich den damit gegebenen Anforderungen bloß legitimatorisch durch Billiglösungen zu entziehen, die den konzeptionellen Herausforderungen nicht gerecht werden, die mit dem Ausbau der Ganztagsbetreuung verbunden sind, sondern sogar vorhandene Tagesbetreuungsangebote abschaffen oder gefährden, da dies weder familienpolitisch noch jugend- oder bildungspolitisch hinnehmbar ist. 

Um vielfältig und selbstbewusst auch im Rahmen der Hilfen zur Erziehung mit der beherrschenden gesellschaftlichen Bildungsinstanz, der Schule, zu kooperieren, bedarf es aber auch Rahmungen und Handlungssicherheiten. Ein Beispiel für eine solche Kooperationsrahmung könnten die gerade erarbeiteten Leitlinien zur Kooperation von Hilfen zur Erziehung und Schule in Brandenburg sein, die mit dem Landesjugendamt, des Jugend- und Sozialministeriums und der Schulaufsicht sowie den Schulämtern gemeinsam erarbeitet wurden und Kooperations- und Konfliktkultur, Hilfeplanung und Einzelfallunterstützung, fallübergreifende Kooperation gemeinsam überdenken und so in beiden Bereichen Handlungssicherheit geben wollen. Das Forum Erziehungshilfen wird nach der Freigabe des endgültigen Papiers diesen Vorschlag zugänglich machen.

Josef Koch

 

Aus dem Inhalt

Das Thema "Förderung der Familienerziehung und die Hilfen zur Erziehung als Bildungsförderung" im Elften Kinder- und Jugendbericht

Richard Münchmeier:
Chancen und Risiken für die Jugendhilfe im aktuellen Bildungsdiskurs

Gerrit Kaschuba, Barbara Stauber:
Gender - Schule - Jugendhilfe: ein feministischer Blick auf denBildungsdiskurs

Aufruf der DPWV und anderer Bundesfachverbände:
Pädagogische Konzepte statt Billiglösungen

Eva Kultus:
Situation von jungen Migrantinnen in Europa und ihre Zugänge zu den Hilfesystemen

Thomas Möbius:
Ambulante Intensive Begleitung (AIB) - Die Integration eines innovativen Ansatzes in die deutsche Jugendhilfe

Hanna Permien, Sabrina Hoops:
Empowerment auf dem Prüfstand - das neue Jugendhilfeangebot AIB aus der Sicht der Evaluation

Norbert Struck:
Förderung von Trägern der freien Jugendhilfe