Pflegekinderwesen

ForE 3-2003

Die Vollzeitpflege kann wie die Heimerziehung auf eine lange – nicht immer unproblematische - Tradition zurückblicken. Beide Formen der Erziehung außerhalb der eigenen Familie tangieren umfassende Lebensbereiche von Kinder und Jugendlichen, sollen einen neuen Ort und einen Lebensmittelpunkt finden helfen oder stellen, tangieren die elterliche Erziehungshoheit der leiblichen Eltern. Ähnlich wie die unterschiedlichen Formen der Heimerziehung, die heute eher als konzeptioneller Begriff zu fassen sind, haben sich im Pflegekinderwesen verschiedenste Ausformungen und Modelle der Hilfe entwickelt, die regional oft nebeneinander entwickelt wurden, manchmal in Konkurrenz zueinander gestellt werden.

Generell ist in den zurückliegenden Jahren im Bereich der Vollzeitpflege sicher von einer besseren rechtlichen Absicherung der Pflegefamilie zu sprechen und eine Aufwertung der Bezüge des Pflegekindes zu den leiblichen Eltern stärker im öffentlichen Blickpunkt. Quantitativ und qualitativ – zumindest hinsichtlich der Ausdifferenzierung unterschiedlicher Angebotsformen - hat sich viel getan in den neuen Bundesländern. Auch hier zeigt sich, dass die Kinder in Vollzeitpflegeformen weiterhin deutlich jünger sind als in der Heimerziehung (vgl. zu anderen Entwicklungen die Statistiken im Datenkasten des aktuellen Heftes und den Beitrag von Blandow/Walter). Neben die traditionelle Pflegefamilie treten verstärkt professionelle Formen der Vollzeitpflege (Erziehungsstellen und sozialpädagogische Pflegestellen) und in zahlenmäßig geringer Form neue Angebote der Teilzeitpflegeelternschaft im sozial-räumlichen Lebensfeld der Kinder und ihrer Eltern, die freilich von den Vertretern des ‚reinen’ Konzeptes der Ersatzfamilie für Pflegekindschaften weiterhin kritisch beäugt werden (vgl. aktuell Westermann in Paten Nr. 2/2003, S. 32-34).

Das vorliegende Heft zum Themenschwerpunkt stellt aktuelle Einschätzungen, Entwicklungen und Modelle vor, die eher versuchen, neue Optionen zu eröffnen. Jürgen Blandow und Michael Walter betrachten die Strukturen der Vollzeitpflege und ihre historische und aktuelle Ausdifferenzierung. Sie berichten über ausgewählte Ergebnisse einer eigenen Untersuchung bei Jugendämtern, die zeigt, dass die jüngeren Differenzierungsformen des Pflegekinderwesens weniger in der Praxis als in der Konzeptionsdebatte Fuß gefasst haben.

Alexandra Szylowicki beschreibt das Konzept der Patenfamilie für Kinder psychisch kranker Eltern, die sozialräumlich im Nahfeld angesiedelt ist und Kindern sowie vor allem Müttern einen kontinuierlichen Bezugspunkt im aktuellen Krisenfall sichern soll. Durch verbindliche Kontrakte abgesichert begleiten Patenfamilien über längere Zeiträume in unterschiedlichen Intensitäten die Herkunftsfamilien.

Heidrun Sauer setzt sich mit der Frage auseinander, in welchen Bereichen Pflegeeltern durch kompetente Fachkräfte unterstützt werden können, um fachliches Hintergrundwissen mit der eigenen Lebenssituation dieser Familien in Ver­bindung zu bringen. Sie zeigt gleichzeitig die Aufgaben eines freien Trägers auf, der als Beratungsstelle für eine verbesserte Zusammenarbeit zwischen Pflegeeltern und Herkunftseltern fungieren soll.

Durch Monika Krumbholz kommt schließlich die Organisation und die Ansiedlung des Pflegekinderwesens explizit in den Blick. Beleuchtet und reflektiert werden die Erfahrungen bei der Privatisierung des Pflegekinderdienstes und der Tagespflege in Bremen. Der Beitrag beschreibt den Rahmen, den ein solcher Umbau des Pflegekinderwesens zwischen dem Spardruck der öffentlichen Hand und neuen fachlichen sowie organisationellen Akzentuierungen hat. Die Autorin versucht die offenen Fragen und Reibungspunkte einer solchen Umstellung aufzuzeigen.

Das vorliegende Heft zu Entwicklungen und Debatten im Bereich der Vollzeitpflege zeigt, dass die fachlich-pädagogische Ausrichtung dieser Hilfeformen und ihrer Organisation eng zusammenhängen. Es kann also nicht um die Verleugnung der Gründe gehen, die zur Unterbringung in einer Pflegefamilie geführt haben, noch kann es darum gehen, Pflegeeltern zu weisungsabhängigen Amtspersonen zu machen. Vielmehr gilt es, intelligente, sichere und individuell zugeschnittene Arrangements für eine gesicherte Lebensperspektive zu schaffen, dafür braucht es Zuneigung und Beziehungssicherheit, aber auch fachlicher Qualifikation und vielfältige Einbindung in die Netzwerke des sozialen Lebens.

Josef Koch

 

Aus dem Inhalt

Werner Freigang:
Krieg und die Kinder: Was kann aus dem Irak-Konflikt gelernt werden?

Jürgen Blandow, Michael Walter:
Historische Entwicklungslinien und aktuelle Ausdifferenzierung des modernen Pflegekinderwesens in Deutschland

Dortmunder Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik:
Pflegekinderwesen im Spiegel der Statistik. Eine Zusammenstellung

Alexandra Szylowicki:
Patenschaften für Kinder psychisch kranker Eltern

Heidrun Sauer:
Beratungsempfehlungen und –erfahrungen bei zukünftigen Pflegeeltern

Monika Krumbholz:
Hoffnungen und Hürden - Bremen hat den Pflegekinderdienst und die Tagespflege privatisiert

Dagmar Garroux:
Casa do Zezinho – Einblicke in die Arbeit einerNicht-Regierungsorganisation in Sao Paulo (Brasilien)

Werner Schipmann:
Kommentar zum Artikel von Friedhelm Peters in Forum Erziehungshilfe, Heft5/02: Die Grenzen des Wettbewerbs oder: Was man über Deutschland lernen kann, wenn man in Australien ist

Joachim  Merchel:
Standards für Flexible Erziehungshilfen?