Wer braucht den Hausbesuch?

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ForE 1-2009

Hausbesuche sind nichts Neues in den Erziehungshilfen, sie sind so alt wie die Soziale Arbeit. Schon in der Armenfürsorge wurden Familien zu Hause aufgesucht. Mary Richmond (1861-1928) plädierte im Rahmen ihrer friendly visitors für den Einbezug der Familie und den wertschätzenden Hausbesuch statt des Abschiebens in das Armen- und Erziehungshaus.

Und auch heute gehören Hausbesuche zu den fachlichen Standards der ASDienste. Gespräche werden in der Wohnung der AdressatInnen geführt, Hilfepläne verabredet. Seitens der freien Träger ist vor allem die SPFH „im privaten Bereich“ der AdressatInnen tätig. Aufsuchende Familientherapie hat die Arbeit „als Gast“ zum Konzept gemacht. Und es werden natürlich Hausbesuche gemacht, um Informationen zu gewinnen – auch, aber nicht nur über Gefährdungslagen von Kindern. Unkritisch können Hausbesuche nicht betrachtet werden: Artikel 13 des Grundgesetzes postuliert die Unverletzlichkeit der Wohnung. Ein hohes Rechtsgut wird also tangiert. In keiner anderen „Maßnahme“ der Erziehungshilfen wird das Spannungsfeld von Hilfe und Kontrolle so deutlich. Und dies noch mehr über die aktuellen Anschlüsse in Konzepten der Frühprävention, wenn Begrüßungsbesuche in einigen Kommunen mittlerweile schon seit Jahren für jedes geborene Kind durchgeführt werden. In einem politischen Vorstoß wird derzeit die Überarbeitung des § 8 a geplant: Erstmals soll nun sogar ein Gesetz Hausbesuche alsTätigkeitsmerkmal vorgeben. Die beabsichtigte Novellierung des § 8a SGBVIII sieht vor, dass sich bei der Gefährdungs-einschätzung das Jugendamt einen unmittelbaren Eindruck von dem Kind und in der Regel auch seiner persönlichen Umgebung zu verschaffen hat (Novellierungstext zu § 8a SGB VIII, Abs. 1 Satz 2, Stand Dez  2008). Im Eilverfahren soll es zur Verabschiedung eines eigenen Kinderschutzgesetzes kommen, bei dem der Hausbesuch als Regelverfahren des ASD im Kontext der Einschätzung von Kindeswohlgefährdung vorgegeben wird.

Die Redaktion des ForE nimmt die fachliche Verortung (siehe oben) und diese Entwicklung zum Anlass, eine kritische Auseinandersetzung um das Thema „Hausbesuche“ zu beginnen. Ulrike Urban-Stahl beschäftigt sich mit der rechtlichen Legitimation von Hausbesuchen. Sie geht in ihrem Beitrag auch der aktuell diskutierten Forderung nach verbindlichen und zwingenden Hausbesuchen im Rahmen der Abklärung von Kindeswohl-gefährdungen nach und zeigt die Implikationen und Nebenwirkungen dieser Debatte.

Wolfgang Rüting diskutiert aus Sicht eines Jugendamtsvertreters die Rolle und die Handlungsmöglichkeiten des ASD. Er zeigt, dass der Einsatz des Verfahrens „Hausbesuch“ als methodisches Element der aufsuchenden Arbeit auf Seiten der ASD-MitarbeiterInnen ein Methodenbewusstsein wie auch eine respektvolle und wertschätzende Haltung voraussetzt. Gregor Hensen und Reinhold Schone fragen nach der Rolle und Bewertung von Hausbesuchen im Kontext Früher Hilfen und ihrer Dienstleistungs- wie Kontrollfunktion. Viele Praxiskonzepte seien geprägt durch eine unklare Trennung der Idee sog. Früher Hilfen, also Hilfen, die vor dem Auftreten einer tatsächlich gefährdenden Situation für Kinder ansetzen, auf der einen und konkreten Maßnahmen zur Erfassung von gefährlichen/ gefährdenden Lebenssituation, die ggf. auf eine Kindeswohlgefährdung hindeuten, auf der anderen Seite. Dies erschwere es vielen KooperationspartnerInnen von sozialen Diensten (ob innerhalb der Jugendhilfe oder in angrenzenden Handlungssystemen, wie z.B. dem Gesundheitswesen), eine Handlungsorientierung oder einen geeigneten Ansatzpunkt für eine Frühe Hilfe zu finden.

Schließlich erörtert Ahmet Toprak „Stolpersteine“ und „Türöffner“ bei Hausbesuchen in türkischen Familien. Eingestreut in das Heft finden Sie eine Informationsmail des Landesbeauftragten für Datenschutz und Informationsfreiheit NRW vom 15.07.2008, die darauf aufmerksam macht, dass eine für die Betroffenen intransparente Verknüpfung der Begrüßung neu hinzugezogener und neugeborener Bürgerinnen und Bürger und von öffentlicher Aufgaben nach dem Sozialgesetzbuch rechtlich unzulässig ist.

Wer also braucht den Hausbesuch? Viele Kinder und Familien! Doch bitte nicht als rein öffentlichkeitswirksame und einzelfallunabhängige Regel-Festlegung von sozialpädagogischen Fachkräften qua Gesetz und reine Misstrauensbekundung gegen sozial schwache Familien!

Josef Koch

 

Aus dem Inhalt

Werner Freigang:
Öffentlicher Hausbesuch der Super Nanny

Ulrike Urban-Stahl:
Der Hausbesuch zwischen fachlicher Notwendigkeit und öffentlicher Instrumentalisierung

Wolfgang Rüting:
Hausbesuche des Allgemeinen Sozialen Dienstes – bewährter Standard sozialarbeiterischen Handelns!

Gregor Hensen und Reinhold Schone:
„GutenTag, wie geht´s dem Baby?“ Hausbesuche im Kontext  Früher Hilfen als Dienstleistung?

Ahmet Toprak:
Stolpersteine und Türöffner. Hausbesuche bei Migranten aus der Türkei

Conny Jager:
Die Arbeit von „Shungu Dzevana Trust“ in Simbabwe

Friedhelm Peters:
Die `Dialektik der Aufklärung` zeigt sich auch in der Jugendhilfe

Elisabeth Tuider, Klaus Wilting:
Gute Orte in den Erziehungshilfen – Lebenswelten aus der Sicht der Jugendlichen

 

Schlagwörter
Erscheinungsjahr
2009
Ausgabe
1
Sammelband
Nein
Ausgabe Jahr
2009