Mädchenarmut

ForE 1-1998

Jedes 10. Kind in der Bundesrepublik Deutschland ist auf Sozialhilfeleistungen angewiesen. Jedes achte Kind in Westdeutschland, jedes fünfte in Ostdeutschland wächst in Haushalten auf, die von Armut (nach der EG-Definition) betroffen sind. 50.000 Jugendliche sind nach vorliegenden Schätzungen obdachlos - so konnte man im sogenannten „Loccumer Manifest“ des Komitees für Grundrechte und Demokratie nachlesen. Wenn man sich dann noch das auf knapp 50 Prozent geschätzte Dunkelfeld verschämter Armut vergegenwärtigt, also der HLU-berechtigten Personen, die aus Scham vor Stigmatisierung und sozialamtlicher Nachschnüffelei den Gang zur Behörde scheuen, dann wird das ganze Ausmaß des sozialstaatliehen Bankrotts deutlich. Die betroffenen Kinder bekommen die bittere Logik eines Systems zu spüren, das in kurzsichtiger Weise nicht nur den Blick von den nicht mehr Leistungsfähigen, sondern auch von den noch nicht Leistungsfähigen wendet, resümierte Reinhold Schone in einem Kommentar in dieser Zeitschrift (ForE 1/96).

In der sozialpolitischen und sozialpädagogischen Debatte um Armut in einer reichen Gesellschaft bleibt allerdings noch zu häufig die Kategorie Geschlechtausgeblendet. Kinder und Jugendliche sind eben Mädchen und Jungen, wobei Mädchen und junge Frauen - wie in anderen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens auch - doppelt benachteiligt sind. Bei ihnen kumulieren die Verarmungs-Risikofaktoren: weniger qualifizierte Ausbildungsberufe, das niedrigere Verdienstniveau in „typischen“ Frauenberufen, höhere Quote an Teilzeitbeschäftigungen, geringere Durchschnittseinkommen mit der Folge niedrigerer Lohnersatzleistungen, Probleme, (frühe) Mutterschaft und Beruf/Ausbildung zu vereinbaren, etc. Mädchen und junge Frauen erleiden dazuhin deutlich häufiger Gewalt und sexuellen Mißbrauch innerhalb der Familie und flüchten dann häufig in ein mit Armut verbundenes gefährliches Leben auf der Straße. Die in der Regel gegenüber 2 Jungen stillere, weniger auffallende Armut von Mädchen bedarf zweierlei: sensibler, parteilicher, aufsuchender sozialpädagogischer Helferinnen mit niedrigschwelligen Angeboten und einer kräftigen (kommunal-)politischen Lobby-und Skandalisierungsarbeit der Sozialen Arbeit. Vielleicht in keinem anderen Bereich der Sozialpädagogik ist es so evident, daß Soziale Arbeit auch Anti-Armuts-Politik sein muß, und - dies wird durch die Beiträge dieses Heftes deutlich - eine Anti-Armuts-Politik muß sich zugleich auch als Geschlechterpolitik verstehen.

Heike Bülter und Christina Hey geben einen Überblick über die Lebenssituation armer Mädchen, diskutieren die Ursachen weiblicher Armut und machen Vorschläge, wie Jugendhilfe, wenn sie sich stärker als Gemeinwesenarbeit versteht und politischer agiert, mehr gegen Mädchenarmut tun könnte. Martina Bodenmüller beschreibt plastisch das Leben von Mädchen auf der Straße als extrem anstrengende Gratwanderung zwischen dem Wunsch, auszusteigen und trotzdem „ganz normal“ zu sein, zwischen dem Überlebenskampf um Lebensmittel, ein bißchen Geld und den Schlafplatz und der ständigen Angst, Opfer von Gewalt und sexuellen Übergriffen zu werden. Einiges wäre daher schon erreicht, so Bodenmüller, wenn minderjährige Wohnungslose selbst einen Anspruch auf Sozialhilfe bzw. wirtschaftliche Jugendhilfe erhalten würden. Bärbel Geiß berichtet über einige Projekte der Jugendberufshilfe für Mädchen des Gießener Zentrums für Lernen und Arbeiten. Den Lebenslagen und vielfältigen Verarmungsrisiken sehr junger Mütter widmet sich schließlich der Beitrag von Monika Friedrich. Besonders bei der Abwendung der immateriellen Armutsrisiken junger Mütter, der fehlenden Kontakte zu Gleichaltrigen und der fehlenden oder abgelehnten Familienbezügen sei die sozialpädagogische Arbeit aufgefordert, Alternativen und Ersatzmilieus zu schaffen.

Wolfgang Trede

 

Aus dem Inhalt

Monika Friedrich: Junge Mütter in Not? - Zum Armutsrisiko bei sehr jungen und jungen Müttern

Johannes Herwig-Lempp: Jugendhilfe in Israel. Eine Studienfahrt der IGfH

Wolfgang Bräuer/Willy: KlaweZum Stellenwert erlebnispädagogischer Maßnahmen in den Hilfen zur Erziehung - Erste Ergebnisse der Evaluationsstudie Erlebnispädagogik

Martina Bodenmüller: Mädchen auf der Straße - eine Lebenssituation in extremer Armut

Bärbel Geiß: Projekte zur Förderung der Integration von Mädchen und jungen Frauen ins Erwerbsleben - das Beispiel ZELA e.V. in Gießen

Ullrich Gintzel: Rechte von Mädchen und Jungen in der Heimerziehung

Michael Hütte: Qualitätssicherung in der Jugendhilfe