Mädchen auf dem Strich

ForE 2-1999

Sabine meldet sich im Alter von 16 Jahren beim Jugendamt, will weg von Zuhause. 'Ja, und zuhause hatte ich auch Probleme, weil meine Mutter, die meinte immer, die müsste ihren Lebenspartner vorziehen, und dann ist das irgendwann so eskaliert, dass ich gesagt habe, ich gehe ...' Sabine kommt zuerst in eine Jugendschutzstelle, dann in eine Heimgruppe, von wo aus sie ins betreute Jugendwohnen wechselt. (...) Auf die Frage, ob sie sich ihren Betreuer aussuchen konnte und wie sie mit ihm zurecht kam, antwortet Sabine: 'Nee, nee, der wurde mir zugestellt. (...) Der ist dann einmal die Woche vorbeigekommen, hat sich angemeldet und dann saß der bei mir eine halbe Stunde, wenn überhaupt, alles klar, ja, alles in Ordnung, ist ja alles schön sauber und so, und dann war der wieder weg.' (...) Vielleicht hat auch die fehlende Beziehung zu ihrem Betreuer dazu geführt, dass Sabine ihre Zeit im betreuten Jugendwohnen als eine für sie 'schlechte Zeit' beschreibt: '(...) nach einem Jahr war ich auch schon ein Wrack, da war ich wirklich ganz unten.' Sabine hat sich während dieser Zeit in einen jungen Mann verliebt, der sie nach und nach der Prostitution zugeführt hat und letztendlich zu ihrem Zuhälter wurde. `Ja, und bei mir ist das immer schlimmer geworden (...), weil am Anfang war das alles so (...), ja, wir müssen Kohle haben, wir müssen uns alles kaufen können, wir müssen ein bisschen angeben können so am Wochenende (...)' Ihr Betreuer hat von ihrem 'wirklichen' Leben in dieser Zeit nichts mitbekommen. 'Dann hab ich mir auch Sachen gekauft, wo normalerweise die Betreuer schon merken mussten, warte mal, hier stimmt was nicht, weißt du, weil ich hatte dann einen Piepser, ich hatte ein Handy, ich hatte mir eine Aigner-Tasche gekauft, dann bin ich nach Benetton reingegangen, habe mir für 700 Mark eine Kombi gekauft und solche Scherze, ich hatte - ich hatte alles, und ich war erst 17. Ja, wo kommt das Geld denn bitte her? Da muss man doch irgendwie was merken.' (...) Erst als Sabine merkt, dass sie schwanger ist, gelingt es ihr, sich trotz der Drohungen des Freundes, an die Polizei zu wenden.

Dieser Auszug aus einem Interview, das im Rahmen des Tübinger Projekts 'Jugendhilfe-Leistungen' entstanden ist (vgl. u.a. EREV -Schriftenreihe 2/98), wirft ein Schlaglicht auf den schwierigen Umgang der Jugendhilfe mit Mädchen, die sich prostituieren. Auch Jahre, nachdem die IGfH ein Schwerpunktheft der Vorgängerzeitschrift 'Materialien zur Heimerziehung' diesem Thema gewidmet hatte (MzH 2/1992), scheint sich in der Praxis der Jugendhilfe wenig geändert zu haben: JugendhelferInnen sind hilflos, schockiert, gucken weg und verdrängen, merken nichts oder wollen nichts merken, wenn betreute Mädchen 'auf den Strich' gehen. Niederschwellige Angebote sind nach wie vor rar, die Maschen der 'normalen' stationären Jugendhilfe zu groß, Tabuisierung und Ausgrenzung immer noch an der Tagesordnung. Wie kann die Jugendhilfe mit anderen, akzeptierenderen aber nicht gleichgültigen Handlungskonzepten, die juristisch haltbar sind, mit Prostitution anvertrauter Minderjähriger umgehen?

Dieser Frage widmen sich die Beiträge: Beate Leopold informiert zunächst breit über weibliche Prostitution, über Lebenssituation und Biographie von Prostituierten. Ulrike Schäfers und Burglinde Retza berichten über die akzeptierende Betreuung eines sich prostituierenden Mädchens. Für Christiane Kluge ist die Mädchenprostitution ein vielfach verdrängtes Thema, wobei angemessene, integrativ ausgerichtete Jugendhilfeangebote in Zeiten ökonomischen Drucks und 'Ergebnisorientierung'  zusätzlich erschwert würden. Myriam Schrank berichtet über das Hamburger Café Sperrgebiet, einer niederschwelligen Beratungs- und Anlaufstelle für minderjährige Mädchen, die sich prostituieren. Hannelore Häbels Beitrag diskutiert das strafrechtliche Risiko, das 'akzeptierende' BetreuerInnen eingehen. Ihr Fazit: Gerade wenn der akzeptierende Ansatz konzeptionell gut abgesichert und mit allen Beteiligten kommuniziert wurde, ist das Risiko sehr gering.

Wir sind uns bewusst, dass wir mit der Fokussierung auf Mädchen das ebenfalls tabuisierte Thema männliche Prostitution ausblenden. Diese Diskussion muss einem späteren Heft vorbehalten bleiben.

Wolfgang Trede

 

Aus dem Inhalt

Luise Hartwig:
Landeskriminalamt gelingt Schlag gegen Kinderschänder

Beate Leopold:
Weibliche Prostitution in der Bundesrepublik Deutschland

Ulrike Schäfers, Burglinde Retza:
Lara geht trotz Pädagogik auf den Strich - Impressionen einer akzeptierenden Pädagogik

Christiane Kluge:
Prostitution junger Frauen. Zum Umgang der Jugendhilfe mit einem vielfach verdrängten Thema

Myriam Schrank:
Die Anlauf- und Beratungsstelle Café Sperrgebiet

Hannelore Häbel:
Minderjährigenprostitution - Akzeptierende Handlungskonzepte als strafrechtliches Risiko?

Martti Kemppainen:
Die Situation der russischen Kinder und Jugendlichen ist alarmierend

Marie-Luise Conen:
Problemkarrieren von delinquenten Kindern unterbrechen - aufsuchende Familentherapie, eine Hilfeform bei Problemkarrieren