Interkulturelles Handeln

ForE 1-2005

Wenn zurzeit der Kulturbegriff im Kontext von Migration bemüht wird, dannist doch meist – je nach Couleur - von der Leit- oder Leidkultur die Rede,von Parallelgesellschaften und Gegenwelten. Gesetzesentwürfe werden eiligauf den Weg gebracht (siehe Kommentar von Norbert Struck) und einigePolitikerInnen haben den Abgesang auf die angebliche Gleichgültigkeit imEntwurf einer multikulturellen Gesellschaft angestimmt, die religiöseOrientierung ist als Trennlinie ausgemacht.

Aber leugnen wir die Probleme nicht. Auch die sozialen Dienste und dieJugendhilfe sehen sich mit den Folgewirkungen einer oft nicht gelungenenIntegration von Menschen mit Migrationshintergrund konfrontiert. Das hatfreilich oft mit klassischen sozialen Fragen zu tun. Über 36 Prozent derSchüler, die die Hauptschule ohne Abschluss verlassen, sind beispielsweiseim Bundesland Hessen ausländischer Herkunft; gleichzeitig zeigt eineStudie der Integrationsbeauftragten der Bundesregierung, dass weit über 80Prozent der befragten MigrantInnen im Alter von 15 bis 21 Jahrenselbstbewusst auf gute Schulabschlüsse und Berufsausbildung setzen – wobeiWunsch und Wirklichkeit weit auseinander klaffen. Aus einer aktuellenStudie des Wirtschaftsforschungsinstituts RWI mit 12000 Befragten wissenwir, dass jede oder jeder zweite der in Deutschland geborenen Kinder undJugendlichen von Einwanderern sich ausgegrenzt fühlt und starkeSelbstzweifel aufweist. Schon der Elfte Kinder- und Jugendbericht machtauf die Unterrepräsentanz von Kindern, Jugendlichen und ihren Familien mitMigrationshintergrund in präventiven Hilfen aufmerksam; die TübingerJULE-Studie weist uns daraufhin, dass Migrationsfamilien doppelt so häufigwie deutsche Familien von vorläufigen Schutzmaßnahmen inJugendschutzstellen betroffen sind und bei jungen MigrantInnen in denErziehungshilfen kürzere Dauer und Krisensituationen beim Zustandekommenvon Hilfen dominieren. Zudem wird die Situation von jungen unbegleitetenFlüchtlingen kaum in der Öffentlichkeit thematisiert.

Das alles macht deutlich – wie Isabell Diehm im vorliegenden Heft ausführt-, ethnisch-kulturelle Differenzen können eine Dimension im pädagogischenHandeln sein, aber die zu starke Betonung der Kulturaspekte erschwert auchZugänge zum Einzelfall mit seinen konkreten sozialen Widersprüchen undHandlungsmöglichkeiten. Diehm plädiert für das Infragestellen einer reingruppenbezogenen Organisation von Hilfen und für eine Konzentration aufressourcenentfaltende Ansätze. Sie weist daraufhin, wie wichtig es ist,dass Kinder, Jugendliche, Familien mit Migrationshintergrund in den Hilfenzur Erziehung auf Professionelle treffen, die ebenfalls reich anMigrationserfahrungen sind. Dabei ist darauf zu achten, dies legt KristinTeuber dar, dass die Fachkräfte nicht unter dem unklaren Diktum eines„interkulturellen Kompetenzerwerbs“ bei der Arbeit mit jungen MigrantInnenund ihren Familien allein gelassen werden und nur auf ihre individuellenFähigkeiten und Anstrengungen zurückgeworfen werden. Die Autorin schlägtden Begriff „migrationssensibles Handeln“ vor und hat damit die nicht nurvon den pädagogischen Fachkräften zu leistende Reflexion derHandlungsbedingungen in der deutschen Einwanderungsgesellschaft im Blick.Zu den Handlungsbedingungen gehört die institutionelle Verfasstheit derJugendhilfe und die Bedarfsfeststellung sowie Leistungserbringung imRahmen der Hilfen zur Erziehung. Hubertus Schröer hält deshalb eineumfassende Strategie der Sozialverwaltung für notwendig, um eininterkulturelles und migrationssensibles Handeln zu erreichen. Dafürbedarf es klarer Verfahrensregelungen zum Beispiel im Rahmen derHilfeplanung und einer gezielten Personalentwicklung. Wie dann einpräventives Angebot und Zugänge zu Familien mit Migrationshintergrundaussehen könnten, welche Probleme und neue Fragestellungen entstehen, wennein interkulturelles Konzept verfolgt wird, das zeigt Gabriele Annen imGespräch mit Hannelore Häbel. Deutlich wird, dass die Präsenz derJugendhilfe im Lebenszusammenhang der Familien wichtig ist, umZugangsschwellen zu senken, die nicht durch Nationalkulturen entstandensind oder entstehen.

Josef Koch

 

Aus dem Inhalt

Norbert Struck:
Der Islam, die Kinder- und Jugendhilfe und ein Gesetzentwurf

Isabell Diehm:
Hilfen zur Erziehung in der Einwanderungsgesellschaft

Kristin Teuber:
Interkulturelle Kompetenz – ein migrationspezifisches Konzept für die Soziale Arbeit?

Hubertus Schröer:
Interkulturelle Orientierung und Öffnung der Hilfen zur Erziehung

Hannelore Häbel:
Interkulturelle Arbeit im Sozialraum. Interview mit Gabriele Annen, SOS-Kinder- und Familienzentrum Berlin-Moabit

Dortmunder Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik:
Staatsangehörigkeit der jungen Menschen in den Hilfen zur Erziehung

Friedhelm Peters, Josef Koch, Xenia Spernau:
“Creating a Place for Children” – Internationaler FICE -Kongress vom 8.-10.9.04 in Glasgow

Wilma Weiß:
Was hilft? - Pädagogische Möglichkeiten zur Korrektur traumatischer Erfahrungen nutzen

Elisabeth Schmutz:
Stationäre Familienbetreuung –Familienaktivierung im stationären Setting

Gerhard Fieseler:
Verpflichtung des Jugendamtes zum „Antrittsbesuch“ bei einer Pflegefamilie