Erfindet sich die Heimerziehung neu?

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ForE 2-2016

Die Formen der Heimerziehung waren und sind „stets in ihrer gesellschaftlichen Funktion, den mit ihr verfolgten fürsorgerischen und erzieherischen Zielsetzungen und damit auch in ihren institutionellen Ausformungen in Abhängigkeit vom sozialökonomischen Wandel vielfältigen Veränderungen unterworfen“, wie Ulrich Bürger es vor 15 Jahren im Handbuch Erziehungshilfen (2001, S. 632) formulierte. Mit dem Achten Jugendbericht schien es in den 90er-Jahren so – getragen von einer gesellschaftlichen Debatte, die die Jugendhilfe auch als Dienstleistung sah ‒, dass unter dem Label „Heimerziehung als gestalteter lohnender Lebensort“ ein Verständnis erreicht wurde, welches das Leben von Kindern in einer Einrichtung über Tag und Nacht abseits des Elternhauses ohne Stigmatisierung gestalten will und kann.

Die rahmenden Leitdebatten haben sich mittlerweile geändert. Heute beherrschen die Frühen Hilfen, die Kinderschutzdebatte, das Fördern und Fordern, der Ruf nach Wirkungsorientierung und schnellen messbaren Effekten des erzieherischen Handelns, die Spezialisierung auf Zielgruppen und möglichst klare Diagnosen von Verhaltensauffälligkeiten wieder die Diskussion. Die Präferenz der ambulanten Hilfen und die geforderte stärkere Verantwortungsübernahme der Familie werden gegenüber den staatlichen Eingriffen in Anschlag gebracht wie jüngst vom Institut der Dt. Wirtschaft – freilich bei gleichzeitiger stärkerer Überwachung der Erziehungsleistungen der Familien und Förderung der staatlichen Institutionalisierung der Kindheit in Kita und Schule. Das vorliegende Heft fragt mit verschiedenen Zwischenrufen nach den Chancen einer Neubestimmung der Heimerziehung und kommt – wen wundert es ‒ zu unterschiedlichen Antworten.

Zu Beginn des Heftes skizziert Friedhelm Peters Reformepochen und Restaurierungsphasen in der Heimerziehung. Der Autor stellt heraus, wie revidierbar die Errungenschaften und stattgehabten Modernisierungen der Heimerziehung sind und wie Vieles, das sich als neu geriert, Altes ist. Peter Hansbauer hingegen bietet auf der Grundlage einer Studienfahrt mit 13 Studierenden durch diverse Heimeinrichtungen ein vielschichtiges Bild der Heimerziehungen. Gute Heimerziehung hängt für ihn ab von der Beantwortung zweier Fragen: Erstens, hat mir Heimerziehung geholfen, mit meinem eigenen Leben (besser) klarzukommen? Zweitens, würde ich rückblickend ebenso entscheiden wie die Erwachsenen, die damals maßgeblich darüber bestimmt haben, wo und wie ich untergebracht wurde? Daran schließt Hans Ullrich Krause an, indem er zeigt, dass inhaltlich neue Anforderungen das Feld der stationären Hilfen in den letzten Jahren in erheblicher Weise beeinflusst haben. Er fordert, dass die Heimerziehung trotz oder sogar wegen ihrer enormen Differenzierung stärker als bisher deutlich macht, was ihre inhaltlichen Positionen, ihr professionelles Wissen, ihre Methoden und Strukturen sind. Sandra Fendrich und Agathe Tabel können statistisch zeigen, dass eine zunehmende Ausdifferenzierung und deutliche Expansion der Fallzahlen im Arbeitsfeld der erzieherischen Hilfen zu konstatieren sind und weisen mit dem starken Anstieg an neu begonnenen Hilfen in der Heimerziehung schon auf die gestiegenen Zahlen an unbegleiteten jungen Flüchtlingen hin. Ruth Andrick, Dieter Meyer, Herbert Schlippert und Michael Weinmann fragen danach: Was erwartet Fachkräfte heute in der Heimerziehung? Die Autor_innen kontrastieren ihre Ausführungen mit den von ihnen wahrgenommenen Kompetenz- und Strukturanforderungen für Mitarbeiter_innen in der Heimerziehung. Schließlich weist Thomas Drössler noch auf ein dunkles, wenig beleuchtetes Thema hin. Vor dem Hintergrund einer aktuellen Studie und Einzelgesprächen mit Verantwortlichen in Schulen nimmt sich der Autor dem Schulausschluss im Kontext der Heimerziehung an.

Die Beiträge des Hefts zeigen, dass die Heimerziehung sich nicht darauf verlassen sollte, dass konzeptionelle Lücken durch die Neubelegung von umF gefüllt werden (Brinks/Dittmann in diesem Heft) oder auf verhaltenstherapeutische Engführungen zu ihrer Begründung zurückgreifen (von Wölfel/Redmann, Löffler in diesem Heft), wenn sie dem Auftrag des § 34 Satz 1 SGB VIII gerecht werden soll, nämlich „Kinder und Jugendliche durch eine Verbindung von Alltagserleben mit pädagogischen und therapeutischen Angeboten in ihrer Entwicklung zu fördern“.

Josef Koch, Friedhelm Peters

 

 

Aus dem Inhalt

Norbert Struck : „Flüchtlingspolitik“ – und die Versuche zur Zerlegung der Kinder- und Jugendhilfe

Friedhelm Peters: Von der Disziplinaranstalt zum lohnenden Lebensort und zurück? Ein soziologisch-historischer Blick auf die Wiederkehr möglichst `reiner Erziehungsinstitutionen`

Peter Hansbauer: Heimerziehung heute ‒ ein nachdenklicher Streifzug durch die deutsche Heimerziehungslandschaft 2015

Hans-Ullrich Krause: Was macht gute Heimerziehung heute aus? – Ein Zwischenruf

Sandra Fendrich, Agathe Tabel: Heimerziehung im Fokus – Ein Blick auf Entwicklungen bei den Adressat_innen und den Settings stationärer Unterbringungen

Ruth Andrick, Dieter Meyer, Herbert Schlippert:, Michael Weinmann Was erwartet Fachkräfte heute in der Heimerziehung und was sind die entsprechenden Kompetenz- und Strukturanforderungen?

Thomas Drössler: „Am Ende steht der Schulausschluss und das Spiel beginnt von vorne“

Monika Weber: Zwischen Gobelinteppich und Do-it-yourself – Die Studienreise der IGfH -Fachgruppe Frauen und Mädchen nach Warschau

Sabrina Brinks, Eva Dittmann: Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in der Heimerziehung

Ulrike v. Wölfel, Björn Redmann, Christiane Löffler Von der geschlossenen Unterbringung zu Geschlossenheit in den Hilfen zur Erziehung? – Gedanken zu aktuellen Entwicklungen

Hannelore Häbel: Konflikt zwischen Amtsvormund und ASD wegen Geeignetheit einer Betreuungsstelle ‒ Beschluss des OLG Brandenburg vom 05.03.2015 – 9 UF 130/14