SGB-VIII-„Reform“?

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ForE 5-2016

Das Editorial ist das letzte, was eine Redaktion verfasst, bevor das Heft dann an den Verlag geht. Jetzt ist es in der zweiten Hälfte des Oktobers 2016. Es gibt nach wie vor keinen Referatsentwurf für die beabsichtigte Änderung des SGB VIII und die Stimmen mehren sich, die hoffen, dass es dabei auch bleibt, damit in der neuen Legislaturperiode mit Ruhe, Augenmaß und Besonnenheit eine Reform für ein inklusives SGB VIII auf den Weg gebracht werden kann, die diesen Namen verdient und die die Grundstrukturen der Kinder- und Jugendhilfe stabilisiert, statt sie zu zerstören. So hat der Paritätische Gesamtverband schon am 30.09.2016 gefordert, die geplante Reform des SGB VIII zu stoppen. Die „große Lösung“ sollte das Reformwerk werden, eine inklusive Ausgestaltung des SGB VIII für alle Kinder und Jugendlichen – gleich ob mit oder ohne Behinderungen. Die meisten Vertreter*innen aus der Behindertenhilfe und der Kinder- und Jugendhilfe haben diese Intention begrüßt und waren hoffnungsvoll, das Projekt im Zeitfenster dieser Legislaturperiode zu bewältigen. Doch mit dem ersten öffentlich gewordenen Arbeitsentwurf des Ministeriums wurde allen Beteiligten klar, dass dieser Entwurf noch ganz andere Themen verhandelte – Themen die die Grundlagen des Verhältnisses der öffentlichen Träger zu den Eltern, Kindern und Jugendlichen und zu den Trägern der freien Jugendhilfe von den Füßen auf den Kopf stellen würden.

Die Autor*innen positionieren sich zur angekündigten „Reform“ des SGB VIII auf der Basis des Arbeitsentwurfs vom 23.08.2016.

Norbert Struck zeichnet die Entwicklung des Prozesses zur SGB VIII-„Reform“ in knappen Zügen nach und macht die Konstruktion eines „einheitlichen Leistungstatbestandes“ als grundlegenden Webfehler des Versuchs, zu einer „großen Lösung“ zu gelangen aus. Alle Leistungsfelder der Kinder- und Jugendhilfe – und nicht nur die Hilfen zur Erziehung! – müssen mit den notwendigen Eingliederungshilfen für junge Menschen mit Behinderungen verknüpft werden. Dazu brauche es kluge Verfahrensregeln, die mit den neuen §§ 36 ff noch nicht gefunden sind – im Gegenteil: diese Paragraphen zerbröseln die individuellen Rechtsansprüche. Gila Schindler befürchtet eine Verwässerung von Rechtsansprüchen, die u.a. darin begründet liegt, dass die grundlegend unterschiedlichen Logiken von Hilfen zur Erziehung und Eingliederungshilfen zwanghaft zur Deckung gebracht werden sollen. Darüber hinaus kritisiert sie die mangelnde Synchronisierung von SGB VIII-„Reform“ und Bundesteilhabegesetz. Aus der Sicht eines Vertreters eines Behindertenverbandes resümiert Norbert Müller-Fehling den bisherigen Diskussionsprozess um die Gesetzesreform. Er legt noch einmal dar, was die Bedingungen waren, unter denen die Verbände der Behindertenhilfe sich für einen inklusive Lösung im SGB VIII eingesetzt haben. Er erläutert, warum die Perspektive auf einen Leistungstatbestand „Entwicklung und Teilhabe“ den Verbänden zunächst plausibel war und welche Funktion darin aus seiner Sicht die Anwendung der ICF-CY hätte spielen können. Im Ergebnis plädiert er dafür, die Arbeit an einem inklusiven SGB VIII fortzusetzen, vielleicht aber mit einem neuen Anlauf. Hannelore Häbel durchleuchtet das Konzept des Rechts von Kindern und Jugendlichen auf Leistungen zur Entwicklung und Teilhabe und konstatiert eine deutliche Schwächung der Rechtsposition gegenüber der geltenden Rechtslage. Im Hinblick auf die beabsichtigte Verbesserung der Rechtsposition junger Volljähriger konstatiert sie de facto eine Rechtsverweigerung. Im Endeffekt werden unter dem Vorwand die Rechte junger Menschen zu stärken, die Rechte der öffentlichen Träger gestärkt. Friedhelm Peters Beitrag erinnert einerseits an den richtigen Impuls Regeleinrichtungen zu stärken und Spezialeinrichtungen weitgehend zu vermeiden und an die marktbezogene Umstrukturierung der Jugendhilfe schon durch die Einführung der §§ 78a ff von 1999. Auf dieser Folie fragt er, ob nicht der Vorrang infrastruktureller Angebote doch zu einer Stärkung der Regelangebote führen kann und ob nicht die Abkehr vom Recht freier Träger auf den Abschluss von Entgeltvereinbarungen neue Räume für fachpolitische Steuerungen ergeben könnte. Hans Thiersch schließlich wirft einen besorgten Blick auf den Gesetzesentwurf aus der Perspektive des Konzepts der Lebensweltorientierung. Er stellt Ansprüche und Umsetzungsformen einander gegenüber und vermisst sie. Im Ergebnis steht die Einsicht, dass der neue Gesetzentwurf sein Vorhaben der Stärkung der Eigensinnigkeit der Adressatinnen unterläuft und desavouiert und die Stärkung einer sozialtechnologisch praktizierten Verwaltung betreibt.

Josef Koch/Norbert Struck

 

 

Aus dem Inhalt

Friedhelm Peters: Wem gehört die Stadt?

Norbert Struck: Kommt das neue „SGB VIII – Leistungserbringung für Kinder, Jugendliche und Familien“?

Gila Schindler   : Wann wenn nicht jetzt? Aber vielleicht doch nicht ganz so? – Zur Einbeziehung von jungen Menschen mit geistigen und körperlichen Behinderungen in die sozialrechtliche Zuständigkeit der Kinder- und Jugendhilfe

Im Pulverdampf – Die Inklusive Lösung inmitten der Auseinandersetzung um die Zukunft der Kinder- und Jugendhilfe.

Norbert Müller-Fehling: Ein Kommentar aus der Perspektive eines Verbandsvertreters der Elternselbsthilfe und Hilfe für Menschen mit Behinderung

Junge Menschen als Rechtssubjekte ernst nehmen!

Hannelore Häbel: Anmerkungen zur Einführung von Rechtsansprüchen junger Menschen auf

Friedhelm Peters: SGB VIII-Novellierung – die Ambivalenzen diskutieren, Optionen erhalten!

Hans Thiersch: Das neue SGB VIII – Fragen aus der Perspektive der Lebensweltorientierung

Roland Berner: Heimerziehung weitergedacht. Der neue Rahmenvertrag nach § 78f SGB VIII für Baden-Württemberg

Michael Behnisch, Ullrich Gintzel, Gregor Hensen, Stephan Maykus, Heinz Müller, Björn Redmann, Reinhold Schone: Selbstzufrieden aber perspektivlos? Impulse für eine Jugendhilfe mit Zukunft

Henriette Katzenstein: Von der „kleinen“ zur „großen“ Vormundschaftsreform: Ein Zwischenstand