Für die Gleichbehandlung von deutschen und Flüchtlings-Jugendlichen! (1997)

 Eine Stellungnahme zu den problematischen Folgen eines hessischen Erlasses

Am 1. Mai 1997 ist in Hessen ein Erlaß zum Umgang mit unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen in Kraft getreten, der in der Praxis hochproblematische Konsequenzen nach sich zog:

  • Bei den über 16-jährigen Flüchtlingen kann ein eventuell gegebener erzieherischer Bedarf gemäß §§ 27 ff SGB VIII in der Regel gar nicht mehr erkannt werden, da diese Jugendlichen direkt in Sammelunterkünfte verbracht werden und es keine jugendhilfefachliche Abklärung gibt.
  • Jugendämter fühlen sich durch den Erlaß ermutigt und legitimiert, laufende Erziehungshilfemaßnahmen für über 16-jährige übergangslos abzubrechen.
  • Als weitere - gegebenenfalls nicht-intendierte - Nebenfolge des Erlasses scheinen Flüchtlingskinder zur Jugendhilfeklientel zweiter Klasse zu werden, die zu Dumpingpreisen und entsprechend deutlich schlechteren fachlichen Standards untergebracht werden.


Die Internationale Gesellschaft für erzieherische Hilfen ( IGfH ) - Sektion Deutschland der Fédération Internationale des Communautés Educatives ( FICE ) e.V. stellt fest, daß diese Praxis eindeutig gegen das Kinder- und Jugendhilfegesetz, das Haager Minderjährigenschutzabkommen und die UN-Konvention über die Rechte des Kindes verstößt und fordert die jugendhilfepolitisch Verantwortlichen in Hessen auf sicherzustellen, daß unbegleitete minderjährige Flüchtlinge genauso wie "inländische" Kinder und Jugendliche behandelt werden.

Zum Hintergrund:
Die Zahl der in Hessen im Rahmen von Hilfen zur Erziehung betreuten Kinder und Jugendlichen aus verschiedenen Krisenregionen der Erde überschreitet die Zahl von 1000. Damit ist Hessen neben Hamburg und Berlin eines der von der Problematik der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge am meisten betroffenen Bundesländer.
Seit dem 1. Mai 1997 ist in Hessen ein Erlaß des Hessischen Ministeriums für Umwelt, Energie, Jugend, Familie und Gesundheit in Kraft getreten, welcher die Unterbringung, Versorgung und Verteilung von unbegleiteten minderjährigen asylsuchenden Flüchtlingen unter 16 Jahren in Hessen regelt.
Einem wesentlichen Anliegen des Erlasses, ein Verfahren umzusetzen, welches eine ausgeglichene Verteilung der finanziellen und Arbeitsbelastung auf die einzelnen Landkreise sichern soll, kann Verständnis entgegengebracht werden. Die konkrete Umsetzung dieses Anliegens jedoch und insbesondere die im Erlaß vorgenommene ausdrückliche Eingrenzung fachlich-inhaltlicher Vorgaben auf unter 16jährige Flüchtlinge erzeugten und erzeugen in der Praxis Verfahrensweisen, die zu Lasten der betroffenen Kinder und Jugendlichen gehen und sich im deutlichen Widerspruch zu den Bestimmungen des Kinder- und Jugendhilfegesetzes befinden!
Das KJHG sieht eine Beschränkung von Leistungen und Aufgaben der Jugendhilfe auf unter 16-jährige Kinder und Jugendliche nicht vor. Hilfeleistungen sollen sich vielmehr nach dem erzieherischen Bedarf im Einzelfall richten. Dies setzt eine gründliche Prüfung der jeweils konkreten Situation eines Minderjährigen voraus und verbietet jedes pauschale Vorgehen.
Kinder und Jugendliche, die ohne ihre sorgeberechtigten Eltern aus Krisengebieten nach Deutschland kommen, bedürfen durch ihre Schutzlosigkeit und ihre besondere psychisch-emotionale Situation der Jugendhilfe. Davon geht auch die Standortbeschreibung zur Betreuung und Versorgung von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen/Asylbewerbern in Hessen vom 15. Januar 1997 aus, auf welche sich der o.g. Erlaß bezieht.

Zur Praxis:
In der Praxis jedoch kann ein solcher Hilfebedarf für jugendliche Flüchtlinge ab vollendetem 16. Lebensjahr nun aber gar nicht mehr festgestellt werden bzw. hat ein solcher Jugendlicher keine realistische Möglichkeit, Hilfebedarf anzumelden, da durch den Bundesgrenzschutz direkt vom Flughafen Frankfurt/Main aus die Zuweisung in eine Hessische Gemeinschaftsunterkunft für Erwachsene veranlasst wird, sobald feststeht, daß ein Jugendlicher das 16. Lebensjahr vollendet hat. Ein Kontakt zum Jugendamt bzw. zur Clearingstelle, d.h. eine pädagogisch-fachliche Diagnose findet in diesen Fällen überhaupt nicht statt. Da in den Gemeinschaftsunterkünften für Asylbewerber ein extrem ungünstiger Betreuungsschlüssel und damit eine permanente Überbelastung der dort tätigen SozialarbeiterInnen besteht, sind die Chancen der Jugendlichen gering, im Nachhinein noch Hilfebedarf zu Gehör zu bringen!
In den Gemeinschaftsunterkünften treffen die Jugendlichen, insbesondere Mädchen, auf Bedingungen, die eine altersgemäße Förderung und Entwicklung nicht gewährleisten können. Dem Anspruch des KJHG, jedem jungen Menschen ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu gewährleisten sowie Benachteiligungen zu vermeiden, wird hier nicht Rechnung getragen.
Unter Berufung auf den Erlaß scheinen sich zudem einige kommunale Jugendämter legitimiert zu fühlen, laufende Erziehungshilfemaßnahmen für unbegleitete Flüchtlinge mit Vollendung des 16., spätestens aber des 18. Lebensjahres übergangslos abzubrechen und die Betroffenen dann in Gemeinschaftsunterkünfte abzuschieben, womit in der Regel ein erneuter Bruch in der Entwicklung der Jugendlichen eintritt. Zu kritisieren ist nicht, daß für Jugendliche mit wachsendem Alter und fortgeschrittener Entwicklung weniger intensive und damit kostengünstigere Betreuungsangebote gesucht, sondern daß in der Praxis unterschiedliche Maßstäbe und Bewertungskriterien für den Hilfebedarf deutscher und ausländischer Jugendlicher angesetzt werden.
Zum Teil verstärken sich Tendenzen, Flüchtlingskinder als existenzsichernde "Füllmasse" für schlechtbelegte Einrichtungen zu benutzen, ohne entsprechende fachliche Standards zu gewährleisten. So muß festgestellt werden, daß in mehreren Einrichtungen für Gruppen mit Flüchtlingskindern zugunsten eines niedrigeren Pflegesatzes Betreuungsschlüssel reduziert bzw. Gruppengrößen aufgestockt werden, ohne daß dafür eine konzeptionelle Grundlage vorhanden bzw. erkennbar wäre. Kommunale Jugendämter machen aus Kostengründen zunehmend von solchen "Dumping-Angeboten" Gebrauch, ohne fachliche Aspekte zu berücksichtigen.
Die Internationale Gesellschaft für erzieherische Hilfen hat bereits im Oktober 1993 in einem Positionspapier "Erzieherischen Hilfen in einer multikulturellen Gesellschaft" Forderungen zur pädagogischen Arbeit mit Flüchtlingskindern formuliert.
Daran anknüpfend fordern wir das Hessische Ministerium für Umwelt, Energie, Jugend, Familie und Gesundheit auf, die konsequente Gleichbehandlung von deutschen und unbegleiteten Flüchtlingskindern und -jugendlichen im Rahmen des KJHG sicherzustellen.

Wir fordern im weiteren:
Die Begrenzung der fachlichen Aussagen des Erlasses auf unbegleitete minderjährige Flüchtlinge bis zum vollendeten 16. Lebensjahr ist aufzugeben. Es muß gewährleistet werden, daß für jeden minderjährigen Flüchtling bis zum vollendeten 18. Lebensjahr ein Clearingverfahren durch die zuständigen Fachleute des Jugendamtes eingeleitet und durchgeführt

  1. Der Grundsatz des KJHG, über angemessene Hilfen entsprechend des individuellen Bedarfs zu entscheiden, ist vollinhaltlich auch für die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge umzusetzen.
  2. Das Landesjugendamt muß im Rahmen der Betriebsgenehmigung und des Schutzes der Minderjährigen gem. § 45 SGB VIII Sorge dafür tragen, daß unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen in erzieherischen Hilfen angemessene, ihrer Entwicklung förderliche Bedingungen zur Verfügung gestellt werden und Hilfeplanung auf dem im KJHG geforderten hohen fachlichen Niveau stattfindet.
  3. Es darf nicht zugelassen werden, daß für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge eine schlechtere Erziehungshilfe geleistet wird, als für deutsche Kinder und Jugendliche. Dies widerspricht sowohl dem KJHG, als auch der UN-Konvention über die Rechte des Kindes und dem Haager Minderjährigenschutzabkommen.


Frankfurt am Main, Dezember 1997
Für die Regionalgruppe Hessen: Katrin Schröter (Sprecherin)
Für den Vorstand der IGfH: Wolfgang Trede (Geschäftsführer)

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